Jüdisches Leben in der Schweiz: Zwischen Sichtbarkeit und Angst

Antisemitismus nimmt auch in der Schweiz zu. Wie fühlt sich das an, wie damit umgehen? Einblicke in zwei Leben.

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Emanuel Zloczower möchte mehr Sichtbarkeit, nicht weniger. Foto: FLIMMER.MEDIA

Emanuel Zloczower trägt im Alltag eine kleine gelbe Schleife als Anstecker. Er möchte sich solidarisch zeigen mit den Hamas-Geiseln und dem Staat, den er als «Herzensheimat» bezeichnet. Dafür erntet er Zustimmung und böse Blicke. Letzteres macht ihm, als ehemaligem Schweizermeister im Boxen, keine Angst.

Beängstigend findet er, dass religiöse Juden in der Schweiz traditionelle Kleidung wie die Kippa nicht mehr offen tragen, sondern stattdessen zum Beispiel Baseballmützen anziehen, wenn sie rausgehen. Antisemitismus. Seit dem 7. Oktober 2023 ist er für Emanuel Zloczower in der Schweiz sehr präsent geworden. Und er kann ihn nicht mehr nicht sehen.

71,4 Prozent der Befragten gaben 2024 an, es mindestens manchmal zu vermeiden, in der Öffentlichkeit als jüdisch erkennbar zu sein.

Studie der ZHAW zu Antisemitismuserfahrungen in der Schweiz

Nur anekdotisch kann Zloczower berichten, wie er als Kind seine jüdische Identität zu spüren bekam. Seine Eltern erzogen ihn nicht religiös, waren darauf bedacht, nicht als «unschweizerisch» aufzufallen. Einmal in der Schule, dritte oder vierte Klasse, schimpften Mitschüler:innen auf die «Saujuden» und meinten damit Zloczower und seinen Freund, die auffielen, weil sie die Weihnachtslieder nicht kannten.

Zloczower wächst auf, wird zum Boxkämpfer, zum Offizier in der Schweizer Armee, zum Anwalt, zum Vater, zum Geschäftsführer des FC Biel, zum Lokalpolitiker. 1987 reist er nach Israel. Zum ersten Mal wird ihm wirklich bewusst, dass er mehr ist als Schweizer. Er findet zu seinen Wurzeln: «Ich bin nicht religiös, aber jüdisch.» Die jüdische Religion als Kultur und Zugehörigkeit.

Zugehörigkeit empfindet er auch in der Schweiz. Er stellt sie nie in Frage. Auch nicht, als ihm gehässiges Geschwätz zugetragen wird, dass es schon zu weit gehe, wenn ein Jude wie er Gemeindepräsident in der Berner Agglo würde. Doch im Oktober 2023 zerbricht das Zugehörigkeitsgefühl.

Zugehörigkeit ist für Isabelle Sokol (Name geändert) ein Lebensthema. Sie wird in Paris geboren, spricht mit Zürcher Dialekt und lebt heute in Basel. Ihre Mutter ist Katholikin, ihr Vater Jude. Nach der Halacha, dem jüdischen Religionsgesetz, gilt sie nicht als Jüdin. Doch sie fühlt sich auch nicht als Christin. «Ich bin kein religiöser Mensch, aber sehr spirituell. Das ist meine Leidenschaft – was wiederum in gewisser Weise sehr jüdisch ist.»

Diese Zwischenposition ist prägend: So wie sie aufgewachsen ist, hat sie von beiden Seiten auch Ablehnung erfahren. Wohl auch, weil beide Glaubensgemeinschaften mit interreligiösen Ehen hadern. Eine Identität zwischen den Welten, die Suche nach Verbindung. «Es gibt in mir einen Raum, der keinem Namen gehört – kein Glaube, keine Herkunft, keine Zuschreibung reicht dorthin. Er ist still, vielleicht auch einsam. Aber er trägt mich – und er gehört ganz mir.»

Dazwischen. Es ist für sie Freiheit und Bereicherung, verschiedene Lebensrealitäten zu erleben. Manchmal sei es aber auch schwierig.

Zum Beispiel beim Thema Sicherheit. «Da wird die Trennung unübersehbar», sagt Sokol. In der einen Welt sei Sicherheit selbstverständlich. Und in der anderen sei es selbstverständlich, sich mit der Sicherheit nicht so sicher zu sein. Sicherheit muss da immer mitgedacht, mitorganisiert werden. «Was mich daran wirklich schmerzt», sagt Sokol, «ist nicht nur, dass es diesen Aufwand überhaupt braucht, sondern dass er so wenig gesehen wird. Jüdische Schulen, Kulturhäuser, Synagogen investieren permanent in ihre Sicherheit. Das ist keine freie Entscheidung, sondern ein Muss. Und genau das wird oft übersehen oder nicht anerkannt.»

57,7 Prozent der Befragten gaben 2024 an, Beleidigungen oder Drohungen anderer jüdischer Personen im Internet beobachtet zu haben. Von beobachteten Belästigungen anderer jüdischer Personen im öffentlichen Raum berichteten 25,5 Prozent. 8,4 Prozent der Befragten gaben an, dass mindestens eine nahestehende Person in den letzten zwölf Monaten eine antisemitisch motivierte Körperverletzung erlebt habe.

Studie der ZHAW zu Antisemitismuserfahrungen in der Schweiz

Es ist diese Art der Ignoranz, die sie auch mit Antisemitismus verbindet. Viele Menschen würden ihre eigenen antisemitischen Muster nicht bemerken. «Ich würde so weit gehen, dass sie sie auch nicht bemerken wollen», sagt Sokol.

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Am Morgen des 7. Oktobers 2023 wird Emanuel Zloczower in Tel Aviv durch Sirenenalarm geweckt. Seine Partnerin und er versammeln sich mit den anderen Bewohner:innen des Hauses im Treppenhaus, weil es keinen Luftschutzbunker gibt.

Als der erste Sirenenalarm des Tages endet, brechen Zloczower und seine Partnerin mit dem Auto in Richtung Norden auf. Die Strassen sind fast leer, vor allem Polizei und Militär sind an diesem Tag unterwegs. Beängstigende Stunden, in denen niemand wusste, was vor sich ging, wo das hinführt, erinnert sich Zloczower. Zwei Tage später flogen die beiden via Antalya zurück in die Schweiz. «Wir haben überlegt, vor Ort zu bleiben, um zu helfen. Doch unsere Bekannten winkten nur ab.»

Zurück in der Schweiz, die für Zloczower nun eine andere ist. Er sieht das Zögern von Städten und Gemeinden, die Israelfahne aus Solidarität zu hissen. Hört das Schweigen zur Gewalt, die am 7. Oktober verübt wurde. Spürt, dass es auch hier Spannungen gibt. Stösst auf taube Ohren, als er sich einsetzt, dass diese Spannungen zum Beispiel in der Schule thematisiert werden. Fühlt sich alleingelassen, verliert Vertrauen. Muss sich rechtfertigen für Israel, sich von Israel distanzieren, um akzeptiert zu werden.

50,1 Prozent der Befragten gaben 2024 an, dass sie oft oder ständig das Gefühl haben, dass Menschen in der Schweiz ihnen die Schuld für Handlungen der israelischen Regierung geben.

Studie der ZHAW zu Antisemitismuserfahrungen in der Schweiz

Isabelle Sokol geht es gleich. Der 7. Oktober verbindet sie stärker mit der jüdischen Community. Doch er entfremdet auch: «Ich war fassungslos, wie viele aus meinem Umfeld geschwiegen haben. Gerade jene, mit denen ich für Gerechtigkeit, Feminismus und Diversität eingestanden bin.» Jahrzehntelang wählte sie mehrheitlich linke Parteien, war beruflich als Coach, Organisationsentwicklerin und Konfliktmanagerin Brückenbauerin zwischen Welten. Doch dieses Mal ist die Antwort auf die Frage der Zugehörigkeit für Isabelle Sokol kein Dazwischen.

Im Vergleich zu 2020 beurteilten die Befragten ihre Lebenszufriedenheit 2024 niedriger. Die psychische Gesundheit verschlechterte sich deutlich.

Studie der ZHAW zu Antisemitismuserfahrungen in der Schweiz

Sokol fühlt sich alleingelassen, zieht sich zurück. In ihr wächst eine Unsicherheit, eine Angst, die ihr Leben beeinflusst. Orte, von denen sie weiss, dass sie propalästinensisch dominiert sind, meidet sie. Überlegt genau, ob sie an diese Geburtstagsparty einer Freundin gehen soll. Was, wenn es zu einer Nahost-Diskussion kommt? Kann und will sie sich beherrschen, wenn rote Linien überschritten werden? Möchte sie ihre jüdische Identität offenlegen?

Erträgt sie die Zuschreibungen und Kategorisierungen, die dann kommen? «Natürlich bin ich für das Existenzrecht Israels, das ist keine Frage. Aber eigentlich möchte ich nicht über Israel reden. Wenn schon, möchte ich über die Hamas reden. Mich irritiert es, dass man sich auf die Seite der Hamas schlagen kann. Es ist ja nicht so, als würde die Hamas verheimlichen, was ihre Absichten sind.»

Aber sie habe bei solchen Gesprächen keine Chance, über die Aspekte des Nahost-Konflikts zu sprechen, die sie beschäftigen, sagt Sokol. Es sei unmöglich, in einen ehrlichen Austausch zu kommen. «Früher dachte ich, das liegt an mir. Aber das ist es nicht. Man will mich in diese Rolle drängen im Gespräch. Um Begegnung und meine Perspektive oder Gefühle geht es nicht.»

Emanuel Zloczower ist keiner, der Israel unkritisch auf ein Podest stellt. Er sagt: «Israel ist nicht die heutige Regierung, sondern es ist eine Idee, es ist eine Vision, es ist eine Heimstätte.» Er wisse, dass es naiv klinge, aber sein Traum sei die friedliche Koexistenz.

Er engagiert sich bei der NGO Keren Hajessod, die sich für alle Menschen in Israel einsetzt und die auch das friedliche Zusammenleben – im Kernland, betont er – fördern möchte. «Solange wir darauf aufbauen und insbesondere den Kindern zeigen, wie sie zusammenleben können, gibt es Hoffnung auf eine friedliche Lösung», sagt er.

Isabelle Sokol ist müde geworden. Am Internationalen Frauentag in Lausanne wurden auch dieses Jahr jüdische Demonstrierende ausgeschlossen. «Und es ist nicht an mir, das zu erklären oder zu reparieren», betont sie.  Sondern in diesem Fall an den nicht-jüdischen Feminist:innen, an der Mehrheitsgesellschaft. «Es geht darum, nicht auszuschliessen. Zu differenzieren und anzuerkennen, dass Schmerz viele Gesichter hat.»

Ihre Grossmutter war jüdisch. «Wenn alle Stricke reissen», sagt Sokol, «wenn der Antisemitismus noch weiter eskaliert, könnte ich nach Israel.» Der Gedanke beruhigt sie.

28,4 Prozent der Befragten gaben 2024 an, darüber nachgedacht zu haben, aus der Schweiz auszuwandern, weil sie sich als jüdische Person nicht sicher fühlen.

Studie der ZHAW zu Antisemitismuserfahrungen in der Schweiz

Auswandern nach Israel ist für Emanuel Zloczower schon lange eine persönliche Vision, die wächst. Früher habe er Auswanderungspläne verworfen und auch heute seien die Zweifel gross. Natürlich wegen seines Umfelds, aber auch ganz grundsätzliche Fragen beschäftigen ihn: «Von was würde ich überhaupt leben? Hier bin ich Partner einer Anwaltskanzlei, es läuft relativ gut. Wie könnte ich mein Leben finanzieren, mit 55 in Israel neu beginnen?»

Doch der 7. Oktober 2023 und vieles seither hat seinen Wunsch, in die «Herzensheimat» zu ziehen, bestärkt. In Israel gehöre er dazu, obwohl er nicht perfekt Hebräisch spricht und in einer anderen Kultur aufgewachsen ist. In Israel fühle er sich sicherer als in der Schweiz, trotz Krieg.

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ist Gründerin von FLIMMER.MEDIA. Die diplomierte Journalistin (MAZ – Institut für Journalismus und Kommunikation, Luzern) beschäftigt sich seit Jahren mit extremistischen Tendenzen und Milieus. Sie wurde 2022 als eine der besten 30 Schweizer Journalist:innen unter 30 ausgezeichnet. Im selben Jahr stand sie auf der Shortlist für die Auszeichnung «Newcomerin des Jahres». 2023 erreichte sie die Shortlist-Nomination als «Gesellschaftsjournalistin des Jahres». Vor FLIMMER.MEDIA arbeitete sie bei verschiedenen Publikationen in Basel.

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