Schaffhauser Privatschule: Überlebenstraining im Wald und Wunsch nach gefährlicher Pseudomedizin als Schulfach
Schweizer Privatschulen werden vielerorts anhand eines eingereichten Konzepts und angekündigten Unterrichtsbesuchen kontrolliert. Problematische Einflüsse werden so übersehen.
Am Dorfrand von Thayngen, in Schaffhausen unweit der deutschen Grenze, bildet eine Privatschule in ländlicher Ruhe seit über einem Jahr Kinder aus. Wobei die leitenden Personen eher von einem «Lernhaus» als von einer Schule sprechen. Im Einklang mit der Natur soll hier «nachhaltiges Lernen» möglich sein: Auf dem offiziellen Instagram-Profil sieht man, wie Kinder Bäume pflanzen, Holzlöffel schnitzen und neben Kälbchen einherspringen. Den Eltern wird versprochen, dass den «Lernenden» im nahen Wald praktische Erfahrungen vermittelt werden. Zum Beispiel Überlebenstraining.
Offiziell richtet sich die Privatschule BBSH (Bildung Begegnung Schaffhausen) nach den Lehren von Anthroposoph:innen wie Rudolf Steiner oder Maria Montessori. Inoffiziell folgen die Schulverantwortlichen aber noch anderen, weit umstritteneren Ideologien, wie Recherchen von FLIMMER.MEDIA und der Schaffhauser AZ zeigen.
Vom Homeschooling in die Privatschule
Die Personen hinter der Schule BBSH sind in Schaffhausen keine Unbekannten. Sie kommen aus dem Umfeld der volksschulkritischen Kreise, die sich während Corona formierten. Eine der Schulleiterinnen war im Vorstand des Vereins gemeinsame.reise. Dieser vernetzte während der Pandemie Homeschooling-Familien und solche, die ihre Kinder wegen der Schutzmassnahmen nicht mehr zur Schule schickten. Der Präsident des Vereins, 2023 Nationalratskandidat der Querdenken-Gruppierung Mass-Voll, verbreitete auf Social Media Holocaust-Verharmlosungen und krude, pseudowissenschaftliche Theorien. Der Verein bot kostenpflichtige Kurse für Kinder an, allerdings ohne die nötige Bewilligung.
Nun hat sich die lose Allianz, die sich damals in diesem volksschulkritischen Milieu zu kristallisieren begann, stabil aufgestellt. Sie hat sich damit neuen Gegebenheiten angepasst. Denn mit dem neuen kantonalen Schulgesetz von 2023 wurden die Schrauben für das Homeschooling in Schaffhausen angezogen. Jene für Privatschulen hingegen nicht: Beispielsweise brauchen Unterrichtende an Privatschulen im Gegensatz zum Homeschooling nicht in jedem Fall ein anerkanntes Lehrdiplom. Die ehemaligen Homeschooler:innen nutzten dies: Nach anfänglichen internen Uneinigkeiten – mit denen auch der geplante Standort, ein abgelegenes ehemaliges Ferienheim im Wald, wegfiel – gelang es ihnen, im Gewerbegebiet von Thayngen Räume anzumieten und sich vom Erziehungsrat eine Privatschule bewilligen zu lassen. Am 12. Februar 2024 nahm Bildung Begegnung Schaffhausen den Betrieb auf und unterrichtet heute 25 Schüler:innen von der Kindergarten- bis zur Oberstufe.
Geleitet wird die Schule von E. M. und A. H. (Namen der Redaktion bekannt). Beide sind auf dem Messengerdienst Telegram aktiv. Alles weist darauf hin, dass A. H. dort – mit enger Verbindung zu ihrem persönlichen Profil – den Kanal Freilernen betreibt. Als die AZ sie damit konfrontiert, antwortet sie nicht. Der Kanal hat rund 120 Abonnent:innen. Die Betreiberin, welche die Nachrichten auch mal mit ihrem Vornamen zeichnet, teilt dort «Ideen fürs Homeschooling und Selbststudium zu allen Themenbereichen aus Schule und Leben». Unter diesen «Ideen» findet sich das ganze Alphabet der pseudowissenschaftlichen Esoterik und Verschwörungsideologie.
Ein paar Beispiele von Beiträgen, die A.H. verbreitet: Kaltes Wasser trinken? Führt zu Herzinfarkt und Krebs. Das «sogenannte» ADHS? Ein Vitaminmangel. Auch gebe es einen bestimmten Grund, wieso die Gesundheitsindustrie den Kindern die Weisheitszähne zieht: Diese seien ans Wissenszentrum im Gehirn geknüpft. Oder: Wer an Silvester einen guten Rutsch wünscht, «wünscht dem Anderen nichts anderes als einen guten, reuevollen und jüdischen Jahresbeginn.»
Die Videos und Texte, die A. H. teilt, stammen teilweise von bekannten rechtsesoterischen bis rechtsextremen Bewegungen wie den Hütern von Irminsul, den Bavarian White Hats oder QAnon. Diese Inhalte werden nicht nur geteilt, es wird auch empfohlen, sie an Schüler:innen zu vermitteln: So stellt die Betreiberin des Kanals und Co-Leiterin von BBSH etwa die antisemitische Pseudomedizin «Germanische Neue Medizin» als «sinnvolles Schulfach» in der «Schule der Neuen Zeit» dar.
Schulleiterinnen sind in Staatsverweigerungs-Chats
Die direkte Verbindung zwischen dem Telegram-Kanal Freilernen und der neuen Privatschule BBSH in Thayngen ist offensichtlich: die Rede ist von «wir» und «unsere Schule». «Wir sind im Thaynger Anzeiger», heisst es etwa frohlockend mit Foto vom Zeitungsbericht. Der Link zum Instagram-Profil der Schule – «unser neuer Instagramauftritt» – ist prominent sichtbar im Kanal platziert.
Auf den offiziellen Materialien und Kanälen der Schule BBSH findet man hingegen nichts von diesen kruden Ideologien. Man erhält von aussen lediglich den Eindruck einer anthroposophischen Schule. Dennoch gibt es auch dort ein paar Dinge, die bei genauerem Hinschauen auffallen.
Dazu kurz etwas ideologischen Hintergrund: Beide Schulleiterinnen, A. H. und E. M., sind auf Telegram in Gruppen aus der Staatsverweigerungsszene wie PIU, die Kinder aus schulischen Förderstrukturen «befreien» wollen. Beide sind auch in Telegramgruppen von WSF (Wissen schafft Freiheit). Diese wurde vom Österreicher Ricardo Leppe gegründet. Der gelernte Zauberkünstler und selbsternannte Bildungsexperte wurde während der Pandemie zum Guru der Querdenken-Szene.
Ricardo Leppe wiederum ist ein Vertreter der Anastasia-Bewegung. Dabei handelt es sich um eine völkisch-esoterische Siedlungsbewegung aus Russland, die sich aus der gleichnamigen Buchreihe des Autors Wladimir Megre nährt. Im Zentrum steht die göttinnengleiche Anastasia, die in Harmonie mit der Natur und den Waldtieren in der Taiga lebt. Doch die Erzählung predigt nicht nur Naturromantik, sondern darin eingebettet Demokratiefeindlichkeit, Antisemitismus, Verschwörungsdenken und ein rassistisch-völkisches Weltbild. Der deutsche Verfassungsschutz stuft die Anastasia-Bewegung als rechtsextremen Verdachtsfall ein.
Die Kinder dem staatlichen Einfluss entziehen
Eng verknüpft mit diesem Weltbild ist ein bestimmtes Schulmodell: Die Schetinin-Pädagogik. Daran orientiert sich auch Szeneguru Ricardo Leppe, der seine Anhänger:innen zur Gründung «freier Schulen» aufruft, um die Kinder dem staatlichen Einfluss zu entziehen. Auch A. H., die die Privatschule in Thayngen leitet, bezieht sich in ihrem Telegram-Kanal Freilernen positiv auf die Schetinin-Schule und teilt etwa ein Video als Beispiel dazu.
Und damit zurück zur Privatschule in Thayngen: Das Bildungskonzept von BBSH kommt blumig daher. Es wirkt auf den ersten Blick bunt zusammengewürfelt und vage, ausser dass die Gemeinschaft und die Naturnähe im Zentrum stehen, man nennt sich auch mal «Waldschule». Das ist typisch für die Schulen aus dem ideologischen Umfeld von Szeneguru Ricardo Leppe. Er empfiehlt seiner Gefolgschaft, sich mit ihren Schulprojekten gegen aussen unauffällig zu verhalten und jeglichen direkten Bezug zu seinem Namen zu vermeiden. So sollen sie unter dem Radar der Behörden segeln.
Die Begriffe, welche die Schule BBSH offiziell nutzt, klingen harmlos, sind aber typisch für die Bewegung: Die Rede ist etwa von «Lernhaus» oder «Lernbegleiter:innen». Denn «Lehrer:innen» braucht es nach der Ideologie Schetinins und Leppes nicht: Die Kinder tragen angeblich schon alles Wissen, das sie brauchen, in sich und geben es untereinander weiter. Das ist Leppes «Schule der Zukunft» – ein Schlagwort, das auch die Thaynger Privatschule unter alle ihre Social-Media-Beiträge setzt.
Ein paar prominente Namen aus dem «Freilernen»-Milieu haben sich auch auf den offiziellen Kanälen der Schule BBSH eingeschlichen: So gibt sie auf ihrer Website an, sich am umstrittenen Hirnforscher und Szenestar Gerald Hüther und an der posthum verehrten Esoterikerin Vera Birkenbihl zu orientieren.
Plötzlich ist die Gruppe nicht mehr öffentlich einsehbar
Ansonsten hat man von aussen keinen Einblick in die Unterrichtsmethoden in Thayngen. Auffällig ist, dass neben Überlebenstraining im Wald auch Selbstverteidigung auf dem Stundenplan steht, was ebenfalls an die Schetinin-Pädagogik erinnert: Trotz freien Lernens nehmen der nationalistisch-militärische Drill und die Kampfkunst dort eine wichtige Rolle ein.
Fazit aus den verschwörungstheoretischen Tiefen: Es besteht eine Offenheit der leitenden Personen der Privatschule BBSH zu rechtsesoterischen, demokratie- und wissenschaftsfeindlichen Lehren. Die Schule hat Züge einer in der Szene sogenannten «Schule der Zukunft».
Die AZ hat die beiden Schulleiterinnen mit den Vorwürfen konfrontiert. Die Antwort kommt von Roman Wanner, Präsident des Vereins BBSH, auch er ein früherer Homeschooling-Verfechter und bekannt als Präsident der SVP Schleitheim. «Die von Ihnen genannten Telegram-Kanäle haben nichts mit unserer Schule zu tun», schreibt Wanner. Der Verein sei demokratisch organisiert, politisch und konfessionell neutral und stehe allen Bevölkerungsgruppen offen. Man verstehe sich durchaus als eine «Schule der Zukunft»: «Als eine Schule, die integrierend wirkt und wirklich allen offen steht. Der Begriff ist allerdings als Slogan für unsere Marketingmassnahmen entstanden und hat nichts mit den von Ihnen erwähnten Lehren zu tun.»
Der Kanal «Freilernen» wurde, kurz nachdem die AZ die Schulleitung konfrontierte, plötzlich für ein öffentliches Publikum geschlossen.
Angekündigte Schulkontrollen
Privatschulen müssen in Schaffhausen ihre «weltanschauliche Ausrichtung» offenlegen und sich an die Bildungsziele des Kantons halten. Per se verboten sind ideologische Einflüsse zwar nicht – eine Schule, welche demokratiefeindliche Inhalte verbreitet, wäre aber laut Erziehungsdirektor Patrick Strasser nicht zulässig. Der Erziehungsdirektor sagt am Telefon, er höre zum ersten Mal von den geschilderten Telegram-Aktivitäten der Schulleiterinnen.
Es sei bekannt gewesen, dass die Privatschule aus dem Umfeld volksschulskeptischer Eltern entstand, das Gesuch sei entsprechend intensiv geprüft worden. «Aufgrund der eingereichten Unterlagen gab es aber keinen Grund, es abzuweisen.» Wie aus den Protokollen des Erziehungsrats hervorgeht, die der Redaktion vorliegen, gewährte dieser der Schule sogar, dass auch Lehrpersonen mit Rudolf Steiner- sowie Montessori-Diplomen zum Unterrichten berechtigt sind, wie in Ausnahmefällen möglich.
Patrick Strasser sagt, bei den bisherigen drei Aufsichtsbesuchen im Unterricht – die das Amt der Schule wie üblich ankündigte – sei nichts Unerwartetes aufgefallen. «Und was ausserhalb der Schule passiert, können wir nicht umfassend überprüfen. Umso wichtiger ist es, wenn das Erziehungsdepartement über besondere Vorkommnisse informiert wird.» Man gehe den neuen Hinweisen umgehend nach.
Dass Kontrollbesuche in Privatschulen im Vorfeld angekündigt werden, ist in vielen Kantonen die Regel.
Die Privatschule BBSH in Thayngen schreibt sich derweil in grossen Buchstaben auf die Flagge, dass sie «staatlich bewilligt» ist. Und soeben erhält sie ein weiteres Gütesiegel: Der hauptsächlich vom Kanton und Bund finanzierte Regionale Naturpark Schaffhausen verleiht ihr dieser Tage das Label «Naturparkschule».
Dieser Text entstand in Kooperation mit der Schaffhauser AZ.
Unsere Quellen:
Naturpark-Schaffhausen.ch: Naturparkschulen
Nf-farn.de: Rechtsesoterische Online-Netzwerke der Anastasia-Bewegung
Woz.ch: Amtlich bewilligte Sektenschule
Br.de: Verfassungsschutz stuft Anastasia-Bewegung als Verdachtsfall ein
heisst mit bürgerlichem Namen Anna Bursian. Sie ist Gründerin von FLIMMER.MEDIA. Lotta hat sich auch durch jahrelange investigative Recherchen eine umfassende Expertise zu demokratiefeindlichen Bewegungen und Strukturen aufgebaut. Vor FLIMMER.MEDIA publizierte sie in verschiedenen Medien in der Schweiz und Deutschland.