Im Land, das nicht zusammenbricht

Raimond Lüppken ist unabhängiger Kriegsreporter. 13-mal war er seit Kriegsbeginn in der Ukraine, fotografierte in Butscha, fuhr mit Soldaten auf Kampfeinsätze und lernte ein Land kennen, das trotz allem funktioniert. Ein Gespräch über die Suche nach echten Problemen, die Absurdität des Kriegsalltags und warum man dahin fährt, wo Millionen Menschen fliehen.

Raimond lueppken
Raimond Lüppken trägt kein Presseschild. Es würde ihn nicht schützen, sagt er. (Bild: zVg)

Du warst mit ukrainischen Soldaten auf einem Kampfeinsatz, nur wenige hundert Meter von russischen Stellungen entfernt. Was treibt einen an, da mitzumachen?

Raimond Lüppken: Neugier. Wenn mich etwas so gepackt hat, ist mir die potenzielle Gefahr relativ egal. Der Einsatz war im November 2022, östlich von Kupjansk, mit der 92. Brigade. Als wir schon eingestiegen waren, kam der Kommandant nochmal zu mir und fragte: «Bist du sicher? Wenn wir losfahren, gibt es kein Zurück mehr.» Ich sagte: «Ist gut, mach die Türen zu, lass uns fahren.» Wir sind dann mit Nachtsicht durch die Gegend gefahren und haben russische Stellungen gesucht. In dieser Nacht haben sie aber nichts gefunden. Also bin ich am nächsten Tag direkt nochmal mitgefahren. Da sind wir mit einem kleineren Panzerfahrzeug, einem Kozak, los. Wir haben uns in einem kleinen Waldstück versteckt und auf den Einbruch der Dunkelheit gewartet. Plötzlich ist ein russischer Panzer direkt an uns vorbeigefahren – 200 Meter entfernt. Der hätte das kleine Waldstück in Schutt und Asche legen können.

Was passierte dann?

Die Soldaten verliessen das Waldstück, stellten zwei Mörser auf und schossen in Richtung der russischen Stellungen. Ich durfte nicht aussteigen, habe nur den Mörser gehört und wie oben das Maschinengewehr ratterte – und sah, wie die Patronenhülsen an der Frontscheibe hinunterkullerten. Dann sagten sie: «Wir müssen schnell zurück, bevor die Russen antworten.» Sie packten alles zusammen, sprangen ins Fahrzeug und wir fuhren los, ohne Licht einen vereisten Feldweg entlang und zwischen kleinen Seen durch. Es dauerte mehr als fünf Minuten, bis die Russen zurückschossen. Da waren wir schon weit weg. Später habe ich gefragt, was das sollte. Die Antwort: An diesem Frontabschnitt war lange nichts passiert. Es ging darum, Präsenz zu markieren, damit die Russen nicht einfach vorrücken.

Fangen wir von vorne an: Wie kam es überhaupt dazu, dass du in die Ukraine gefahren bist?

Ich hatte schon beim Bosnienkrieg 1992 den Gedanken, hinzufahren. habe mich aber nicht getraut. Durch die Erzählungen meiner Grundschullehrerin über den Zweiten Weltkrieg in Berlin war das Thema für mich immer präsent. Ich sagte mir: Wenn wieder ein Krieg in der Nähe ist, fahre ich hin. Als die Invasion anfing, wusste ich: Jetzt ist der Zeitpunkt.

Im März 2022 wollte Lüppken eigentlich nur zur ungarisch-ukrainischen Grenze. Dort nahm ihn ein Auto mit Aargauer Kennzeichen per Anhalter mit – der Fahrer holte zwei Kinder ab, um sie in die Schweiz zu bringen. Die ukrainischen Eltern fragten, ob sie Lüppken nach Lwiw mitnehmen könnten. Sie waren froh, mit jemandem sprechen zu können. So landete er drei Tage in Lwiw.

Ein paar Wochen später warst du schon wieder in der Ukraine, diesmal in Kyjiw. Was hast du dort erlebt?

Das zweite Mal war im April. Die Russen hatten sich gerade aus Butscha, Hostomel und Borodjanka zurückgezogen. Da habe ich das erste Mal Zerstörung gesehen. Borodjanka sah wirklich übel aus. Ich war in Butscha am Massengrab, als sie die letzten Leichen geborgen haben.

Was waren die prägendsten Sinneseindrücke dieser Reisen? Was bleibt hängen – der Lärm, die Bilder, die Gerüche?

In Butscha war es der Geruch. Ich hatte so etwas noch nie gerochen: der Gestank verwesender menschlicher Körper. Ein Forensiker hat einen der Leichensäcke geöffnet, ich habe die Folterspuren gesehen. Das war heftig. Was mich aber am meisten betroffen gemacht hat, war der Anblick am Bahnhof in Lviv. Tausende Menschen, meist Frauen und Kinder, die ihr Leben in zwei Koffern hatten. Es war arschkalt, hat geschneit. Sie harrten den ganzen Tag aus, um einen Bus oder Zug nach Polen zu bekommen. Abends wurden sie in Sporthallen zum Übernachten gefahren, am nächsten Tag wieder dasselbe. Diese Verzweiflung, diese Not der Fliehenden hat mich mehr betroffen gemacht als die Leichen. Der Tod ist etwas Endgültiges.

Auf diese ersten Reisen folgten viele weitere. Lüppken war in Charkiw, in Cherson kurz nach der Befreiung und in Bachmut, einen Tag nachdem Selenskyj die Stadt zur Festung des Widerstands erklärt hatte und die Russen mit aller Kraft darauf schossen.

Du sprichst von den Menschen, die fliehen. Aber du hast auch viele getroffen, die bewusst geblieben sind. Was erzählen diese?

In Torske, einem völlig zerstörten Dorf, trafen wir eine alte Frau, die fast allein dort lebte. Da lag ein Ast auf dem Gehweg, und sie hat ihn weggeräumt. Ihr war wichtig, dass es sauber ist, auch wenn ein Grossteil der Häuser in Schutt und Asche lag. Sie sagte: «Ich bleibe hier, das ist meine Heimat.» Viele alte Leute sagen das. Man muss bedenken: Sie haben den Grossteil ihres Lebens in der Sowjetunion verbracht, so unbekannt ist ihnen diese Situation nicht. In Avdivka sagte uns ein Mann: «Mir ist egal, ob ich unter ukrainischer oder russischer Herrschaft lebe. Ich habe meine Rente, das ist das einzige, was für mich zählt.»

Du beschreibst eine merkwürdige Normalität im Krieg. Wie sieht der Alltag nur wenige Kilometer von der Front aus?

Bis 30 Kilometer vor der Front geht das Leben relativ normal weiter. Man merkt die Nähe an der Dichte der Army-Shops, die wie Pop-Up-Stores auftauchen. Die Züge kommen pünktlich auf die Minute, selbst wenn Gleise beschädigt sind. Wenn ein Umspannwerk zerstört wird, ist der Strom nach ein paar Stunden wieder da. In Odessa sass ich die ersten Tage meiner Reise Anfang September am Strand, habe Bier getrunken und war mit Freunden unterwegs. Odessa ist der Hammer – schwarzes Meer, wunderschöne Altstadt. Das fühlte sich an wie Urlaub, obwohl die Krim nur 80 Kilometer entfernt ist. Die Vorwarnzeit ist so kurz, dass teilweise erst die Sirene losgeht, wenn schon eine Rakete eingeschlagen ist. Und die Leute sind abgestumpft. Das Leben geht an den meisten Orten normal weiter, wenn die Sirenen heulen.

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Wie reagieren die Ukrainer:innen auf Journalist:innen?

Die Menschen fragen mich oft, wo ich denn schon überall in der Ukraine war. Ich erlebe dann, dass dieser Krieg auch ein Krieg der Orte und Zeiten ist. Bestimmte Namen tragen plötzlich ein Gewicht, das weit über ihre Geografie hinausgeht. Butscha im April 2022, als die letzten Leichen geborgen wurden. Cherson im November, kurz nach der Befreiung von sieben Monaten Besatzung. Bachmut im Dezember, fast vollständig eingeschlossen. Oder Sudscha im russischen Gebiet Kursk, das die Ukraine 2024 kurzzeitig eroberte. Das sind Orte, die zu Chiffren geworden sind. Wenn ich erzähle, dass ich dort war, verändert sich die Reaktion. Aus einer beiläufigen Frage nach dem Wo wird plötzlich Bewunderung – und oft auch die nach dem Warum. Die Leute sind dankbar, man erhält viel Unterstützung. Einmal ist mein Computer abgestürzt und liess sich nicht mehr einschalten. Ein Techniker in Kyjiw wollte für die Reparatur 50 Euro. Als ich zum Abholen kam, verlangte er nur 20 und sagte: «Du bist Journalist. Ihr tut so viel für die Ukraine.» Ich wollte ihm Trinkgeld geben, er hat aber darauf bestanden, mir das Wechselgeld zurückzugeben. So etwas passiert oft. Wobei man sagen muss, dass das nicht für alle Journalist:innen gilt.

Warum nicht?

Viele werden – zurecht – nicht wirklich ernst genommen. Man sieht es in Kyjiw: Journalisten, die auf dem Sophienplatz für ihre Aufsager mit Helm und Schutzweste posieren. Die Leute laufen vorbei und denken sich: Was geht mit dem ab? Ich mache das anders. Ich fahre hin und mache, was sich ergibt. Die grossen, geplanten Geschichten bekommen sowieso nur CNN oder die BBC. Ich setze lieber auf persönliche Kontakte. Ein Presseschild trage ich auch nicht. Das schützt dich nicht, die Russen nehmen darauf keine Rücksicht.

Du bist nicht nur auf Ukrainer:innen getroffen, sondern auch auf pro-russische Stimmen.

Ja, im September 2024 sind wir mit dem ukrainischen Militär über die Grenze ins russische Oblast Kursk gefahren, in die Stadt Sudscha. In einem Kellerraum bekamen die zurückgebliebenen russischen Zivilisten ihre Verpflegung – von den ukrainischen Soldaten. Sie schienen nicht unzufrieden. Später, in einem kleinen Dorf, sassen zwei alte Babuschkas auf einer Bank. Die hatten kein Problem, uns zu erzählen, wie toll sie Putin fanden. Und das, obwohl sie unter ukrainischer Besatzung lebten. Das zeigt, wie tief diese Überzeugung sitzt.

Wie finanzierst du deine Reisen?

Letztendlich zahle ich drauf. Wenn ich die Zeit in der Zimmerei arbeiten würde, würde ich mehr verdienen. Ich mache das nicht wegen des Geldes, sondern für die Erlebnisse – und weil ich das Land liebgewonnen und viele Freundschaften aufgebaut habe.

Wie erklärt man seinen Eltern und Freunden, dass man schon wieder in die Ostukraine fährt, zum 13. Mal?

Mittlerweile haben sich wohl alle damit abgefunden. Aber als ich das erste Mal losgefahren bin, habe ich meinen Eltern erst davon erzählt, als ich zurück war.

Wie minimierst du das Risiko für dich?

Ich mache mir unheimlich viele Gedanken zur Risikominimierung. Man muss nüchtern sein, alle Sinne beisammenhaben, nicht mit Airpods in den Ohren herumlaufen. Ich bin teilweise bei Minustemperaturen mit offenen Scheiben im Auto gefahren, nur um vielleicht noch eine anfliegende Drohne zu hören. Man scannt ständig die Umgebung nach Deckung: Zehn Meter hinter mir geht eine Treppe runter, da vorne ist eine stabile Einfahrt. Wenn etwas passiert, weiss ich, wo ich hinmuss, ohne zu suchen.

Gab es auch Situationen, in denen du eine Grenze ziehen musstest, weil das Risiko zu gross wurde?

Ja, absolut. Zuerst wollte ich Ich mit einem türkischen Journalisten nach Bachmut fahren. Ich war ein paar Tage mit ihm unterwegs, aber ich merkte schnell: Der ist mir zu chaotisch, zu planlos. Man muss sich auf seinen Partner verlassen können. Ich habe die Fahrt abgesagt und bin einen Monat später mit einem erfahrenen Kollegen nach Bachmut.

Wonach suchst du in der Ukraine?

Viele Menschen sind geflohen. Sie sind gegangen, weil es richtig ist, weil sie leben wollen. Für Westeuropäer ist es selbstverständlich zu sagen: «Da gehe ich nicht hin, da ist Krieg.» Ich verstehe das. Ich gehe trotzdem hin. Nicht aus Lebensmüdigkeit, sondern aus Neugier. Aus dem Wunsch, eine Gesellschaft in Extremsituationen zu erleben. Menschen, die mit existenziellen Problemen kämpfen. Keine Diskussionen über Wohlstand oder Kleinigkeiten, wie wir sie in Westeuropa führen. Nur Überleben, helfen, zusammenhalten.

Im November will Lüppken wieder in die Ukraine, mit einem Marineschiff aufs Schwarze Meer. Ob daraus eine Story wird, die jemand kauft, ist ungewiss. Aber darum geht es ihm nicht primär. Der Krieg, da sind sich alle einig, wird noch Jahre dauern. Und Lüppken wird weiter hinfahren. Dorthin, wo andere fliehen.

Tim Haag hat am MAZ – Institut für Journalismus und Kommunikation in Luzern Journalismus studiert. Er arbeitete unter anderem bei SRF «Kassensturz» und als Politikredaktor der p.s.-Zeitung. Heute schreibt er für FLIMMER.MEDIA über politische, religiöse und gesellschaftliche Strömungen, die die Demokratie gefährden.

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