Die Verteidigerin
Erst kämpfte Olha Shypitsyna in Mariupol, dann ums Überleben in russischer Gefangenschaft. Jetzt kämpft sie dafür, dass ihre Kameraden nicht an ihren Erinnerungen zerbrechen.
Olha Shypitsynas Lächeln wirkt, als würde es sich durch einen Schleier kämpfen, vorsichtig und tastend, fast misstrauisch. Sie steht angespannt und aufrecht im schmucklosen Büro der Rekrutierungsstelle der Marine in Odessa. Bevor das Gespräch beginnt, rückt sie ihren Stuhl leicht schräg, sodass sie nur ihre Gegenüber – Übersetzer und Interviewer – im Blick hat. Nicht den Kommandanten im Hintergrund, nicht die kahlen Wände, nur die Menschen, denen sie gleich ihre Geschichte anvertrauen wird. Jedes Wort ist innerlich abgewogen, bevor es Olhas Lippen verlässt.
2017 – die Welt scheint noch in Ordnung. Olha Shypitsyna leitet ein Hotel in der Tourismusbranche, empfängt Gäste, plant Events, managt den Alltag zwischen Rezeption und Restaurantbetrieb. Dann trifft sie eine Entscheidung, die ihr Leben fundamental verändern wird: Sie tauscht den Blazer gegen die Uniform, das Gästebuch gegen das Sturmgewehr. Was treibt eine erfolgreiche Hotelmanagerin dazu, sich freiwillig zum Militärdienst zu melden? Im Dezember 2021 wird sie nach Mariupol versetzt. Eine Hafenstadt am Asowschen Meer, 500'000 Einwohner, industrielles Herz der Ostukraine – und wenige Wochen später ein apokalyptisches Schlachtfeld.
Die Hölle von Mariupol
Wochenlang prasseln Raketen und Artillerie auf Wohnviertel, Krankenhäuser und Schulen nieder. Einst belebte Strassen werden zu Trümmerfeldern, während die Zivilbevölkerung in Kellern ohne Wasser, Licht oder Nahrung um ihr Überleben kämpft. Ganze Familien werden ausgelöscht, Nachbarschaften verschwinden unter Schutt und Asche.
Die Belagerung zieht sich gnadenlos hin. Bis Mitte Mai 2022 verteidigen die letzten ukrainischen Soldaten die Stadt, viele von ihnen eingeschlossen in den unterirdischen Katakomben des Stahlwerks Asowstal. Olha Volodymyrivna ist Teil dieses erbitterten Widerstands. Tag für Tag, Nacht für Nacht harrt sie aus. Während über ihnen die Bomben einschlagen, während russische Truppen versuchen, in die Tunnel unter dem Werk vorzudringen, während die Vorräte und Hoffnung schwinden. Am 17. Mai 2022 ist es vorbei. Olha wird gefangengenommen. Drei Tage später kapitulieren die letzten Verteidiger des Asowstal-Werks.
Kalkulierte Grausamkeit
Das Kriegsgefangenenlager Olenivka liegt in den besetzten Gebieten der Ostukraine. Hier herrscht eine kalkulierte Grausamkeit. Die Frauen sind völlig von männlichen Kameraden isoliert. Alle Aufseher sind Männer; ehemalige Landsleute, die seit Jahrzehnten in der Ukraine leben und nun für die russische Armee in den besetzten Gebieten arbeiten. Schläge, Tritte, Elektroschocks gehören zur Tagesordnung. Aber es ist die psychologische Grausamkeit, die am meisten zermürbt: «Wenn männliche Gefangene an den Folgen der Folter starben, trugen die Wärter ihre Leichen demonstrativ durch unseren Trakt.» Im Frauentrakt befinden sich zwei Schwangere. Eine von ihnen verliert ihr Kind in der Gefangenschaft. «Eine medizinische Versorgung war praktisch nicht vorhanden», erzählt Olha weiter. Die inhaftierten Ärztinnen tun, was sie können, mit den wenigen Erste-Hilfe-Materialien, die man ihnen lässt. Es ist ein Kampf ums Überleben mit blossen Händen.
Am 29. Juli 2022, kurz nach Mitternacht, erschüttert eine gewaltige Explosion Olenivka. Im Männertrakt brennt es lichterloh. Olha und die anderen Frauen hören die Explosion, sehen den Feuerschein, riechen den Rauch. Unternehmen können sie nichts. Über 50 ukrainische Kriegsgefangene sterben, Dutzende werden verletzt. Obwohl Russland behauptet, ein ukrainischer Raketenangriff sei die Ursache, deuten alle Beweise auf eine geplante, von innen ausgelöste Sprengung hin – ein grausames Kriegsverbrechen.
Die neue Mission
Spätsommer 2022. Nach monatelangen Verhandlungen gelingen der Ukraine erste grössere Gefangenenaustausche. Die Bilder gehen um die Welt: Ausgemergelte Gestalten, die aus Bussen steigen, mit ukrainischen Flaggen um die Schultern. Olha ist unter ihnen. Nach Monaten in der Dunkelheit steht sie wieder auf heimischem Boden.
Man könnte erwarten, dass jemand nach solchen Erfahrungen nur noch weg will. Weg von der Armee, weg vom Krieg, weg von allem, was daran erinnert. Nicht so Olha Shypitsyna. Sie bleibt. Mehr noch: Sie übernimmt eine verantwortungsvolle Position im Rekrutierungswesen der Marine. Parallel beginnt sie zwei Studiengänge – Tourismusmanagement, um an ihr altes Leben anzuknüpfen, und Psychologie, um ein neues zu beginnen. «Viele Soldaten haben Hemmungen, psychologische Hilfe anzunehmen», erklärt sie. Ihre Stimme wird fester, wenn sie über ihre Zukunftspläne spricht. Sie will Militärpsychologin werden. Ihre eigene Therapie geht sie mit derselben Entschlossenheit an, mit der sie Mariupol verteidigt hat. Sie arbeitet mit Spezialisten, stellt sich ihren Dämonen, kämpft sich zurück ins Leben.
Als das Gespräch zu Ende geht, hat sich etwas verändert. Olhas anfängliche Anspannung ist einer ruhigen Entschlossenheit gewichen. Die Bitte um ein Foto – sie nickt sofort, steht auf, tritt vor die Marineflagge, zieht sie gerade, zeigt stolz ihre glänzenden Orden.
In der ganzen Ukraine sind die Verteidiger von Mariupol zu Helden geworden. Graffitis zieren Hauswände, «Free Mariupol Defenders» prangt auf einem riesigen Transparent am Kiewer Rathaus. Aber Olha Shypitsyna will kein Denkmal sein. Sie will denjenigen helfen, die durchmachen, was sie durchgemacht hat.
Draussen vor dem Rekrutierungsbüro weht noch immer der Wind vom Schwarzen Meer. Odessa lebt, atmet, kämpft weiter. Wie Olha Shypitsyna. Wie die ganze Ukraine.